schneeflocke hat geschrieben: ↑Fr 13. Aug 2021, 20:21
Eigentlich wollte ich mich aus diesem Thread komplett raushalten, weil mich diese Banalisierung der Erkrankungen triggert, aber nun muss ich auch meinen Senf dazu geben.
Ich kann Mrs. Hudson und Fruchtfliege nur beipflichten. Die psychischen Erkrankungen betreffen in verschiedenen Formen fast die gesamte Gesellschaft. Und nur weil diese nicht diagnostiziert sind, heißt es nicht, dass man sie nicht hat. Alkoholismus ist übrigens auch eine schwere Erkrankung, genauso wie eine Depression, Essstörungen oder zahlreiche psychosomatische Erkrankungen. Leider werden diese Erkrankungen oft tabuisiert und dann kommt ein bisschen Disziplin und Halte-Durch-Parolen ins Spiel. Wenn jemand einen Bandscheibenvorfall hat oder Arthrose, da haben alle Verständnis. Bei der Psyche kommt eben die Unsicherheit, weil es nicht greifbar ist, weil es vielleicht Angst macht, weil es in der Gesellschaft immer noch ein Tabu ist, weil man den Knacks weg hat. Das ist so schade, denn durch meine eigenen Erfahrungen sehe ich so viele Menschen, die massive Probleme haben, aber es gar nicht wissen. Die Verdrängungsmechanismen, Projektion und andere Mechanismen funktionieren wunderbar und so sind natürlich alle anderen betroffen, nur sie nicht. So dachte ich früher übrigens auch. Vor ein Paar Jahren hätte ich wohl Mrs. Hudson und Fruchfliege nicht verstanden, warum die sich „so anstellen“ und nicht „einfach mal „ihre Gewohnheiten sein lassen.
Natürlich gibt es auch Gewohnheiten. Ich putze mir jeden Morgen die Zähne und habe eine bestimmte Reihenfolge, wenn ich Geschirr spüle, ich kaufe immer ganz bestimmte Sorte Eier (ersetzbar durch zig andere Produkte) etc. Es gibt auch schlechte Angewohnheiten wie ....keine Ahnung, fällt mir gerade nichts ein. Und natürlich sind wir, was Essen angeht, geprägt von unseren Elternhaus, Kindergarten, Schule, whatever...Und man kann sicherlich auch gewisse Muster durchbrechen und diese relativ easy ändern, sofern die Verflochtungen mit tieferen Emotionen nicht zu stark sind.
Allerdings haben wir in diesem Forum fast nur Menschen, die stark adipös sind oder es waren und ich lehne mich weit aus dem Fenster und behaupte, dass man nicht stark adipös wird, nur weil man ein Paar schlechte Angewohnheiten hat. Da hat man vielleicht ein Wohlfühlbäuchlein, aber kein starkes Übergewicht.
Die meisten hier reißen sich ihr ganzes Leben zusammen und disziplinieren sich selbst immer wieder. Und ? Landen immer wieder hier. Die Ursachen, die meist emotionaler Natur sind, müssen ernst genommen werden. Das heißt nicht, dass man Erkrankungen, egal welcher Art, als Ausrede nutzen soll. Allerdings ist mir hier bisher auch niemand begegnet, der das tut. Viele haben eher den Leidensdruck und viele schämen sich, weil sie es nicht schaffen. Aber schämen sollte sich niemand, denn die Gründe sind sehr ernst und es klingt wie eine Faust ins Gesicht, wenn man eben liest , dass man die Gewohnheiten ändern soll oder seinen Konsum.
Ich weiß, dass weder Masche noch OHvalen es böse meinen, also alles gut. Ihr habt auch eure Gründe dafür, das verstehe ich. Ich habe gelernt mich offen zu artikulieren und mich für mich nicht zu schämen, aber es gibt andere, die das vielleicht nicht können. Die hören ihr Leben lang: bewege dich mehr, iss weniger und dann nimmst du ab. So einfach ist es nicht, wenn Essen nicht das Problem ist.
Ach und apropos Psychopharmaka-Keule: das muss nicht zwangsläufig sein. Ich hatte beispielsweise noch nie irgendwelche Medikamente genommen, mein Fokus lag und liegt auf der Psychotherapie (Verhaltens-, Gesprächs-, Tiefenpsychologische Therapie etc.). Über Medikamente hatte ich viel mit meiner Mutter gesprochen (sie ist Fachärztin für Psychiatrie), weil mein Arzt mir dazu anfangs auch geraten hat. Aber ich wollte es allein versuchen und meine Mama sagte, ich solle es so machen, wie es sich am besten für mich anfühlt. Ich komme gut auch ohne Medis klar. Aber es gibt Menschen, da ist es einfach notwendig. Durch meine Mutter habe ich natürlich auch einen ganz andere Blick auf die psychischen Erkrankungen. Früher war ich nur genervt, wenn meine Mutter mal wieder was von Psychosomatik, Sucht oder ähnlichen gesprochen hat, auch im Zusammenhang mit meinem Gewicht, aber mittlerweile muss ich zugeben, sie hatte immer zu 100% Recht. Nur wollte ich es damals nicht wissen. Meine Strategie war eher hungern, exzessiv Sport treiben und sich noch mehr und noch mehr disziplinieren und treiben.
So, nun habe ich genug Senf dazu gegeben. Zum Abschluss nur noch eins: jeder hat seinen Päckchen zu tragen im Leben. Ich würde mir wünschen, dass jeder mit seinen Sorgen ernst genommen wird. Wir sind alle unterschiedlich und haben subjektive Empfindungen. Und Wäre, Zuwendung und Verständnis helfen immer, weil wir nun mal emotionale Wesen sind und alles damit zusammenhängt
Gut, ich habe jetzt nach etwas Pause den Thread auf einmal gelesen und danke Schneeflocke für die Worte.
Ich finde, da gibts ziemlich viel zu sagen. Ja, Offenheit ist gut und auch Kritik. Dazu ist der Austausch ja da. Für mich gibts da feine Unterschiede und zu pauschalisieren bringt nicht viel oder Vorwürfe bzw. Vorurteile.
Ich finde es gibt einen Unterschied zwischen Gewohnheiten und Dingen, die man regelmäßig macht.
Eine Gewohnheit kann man leicht ändern und das ist wie eine Übung, die man macht. Erfahrungsgemäß. Keine Ahnung, aber zu spät zu Bett gehen ist meiner Meinung nach eine Gewohnheit. Man wird am nächsten Tag Augenringe haben oder unkonzentriert sein und wenn man keinen triftigen Grund hat, um aufzubleiben, sondern in einem Buch oder dem Fernseher hängen bleibt, dann kann man es jederzeit wieder lassen. Vielleicht nervt es kurz, aber das geht.
Wenn ich allerdings ein bestimmtes Gefühl brauche und nur auf einen Knopf drücken muss, um das zu bekommen, dann lässt man das nicht so einfach los. dann gibt's aber auch ein Verlangen, das dahinter steckt und da wären wir bei der Psychologie.
Nach der der Definition von Psychologie sind auch Motive und Verhaltensweisen gemeint. Das bedeutet, hinter JEDER Handlung versteckt sich ein psychologisches Motiv. Psyche ist aber nicht gleich Problem. Es ist nicht übel, wenn man weiß. was seine Motive hinter Handlungen sind. Das ist sinnvoll herauszufinden, da die Psyche nunmal ein Teil von uns ist.
Sucht ist meiner Meinung nach immer etwas Psychisches und so zu definieren, dass man mit etwas, das einem schadet, nicht einfach aufhören kann, im Gegensatz zu einer Gewohnheit. Als Beispiel, wenn jemand so viel trinkt, dass er regelmäßig kotzt, aber ohne Alk keine gute Laune hat, ist es Sucht. Wenn jemand so viel Computer spielt, dass er nicht mehr zur Arbeit gehen kann, ist es Sucht und das kann man auf jeden Bereich ausdehnen. Und ich meine, auch Sport kann zur Sucht werden und vermutlich ziemlich viel. Manchmal ersetzen Personen auch eine Sucht durch die andere. So mancher Raucher wird dann dick und so weiter.
Und natürlich ist Essen auch eine Gewohnheit. Wenn man nie gewöhnt ist, Rosinen zu essen und sie nicht mag, dann kann man sich das angewöhnen und irgendwann fehlen sie einem dann im Strudel. Also ja, klar gehört zum Abnehmen im Normalfall die veränderte Ernährungsaufnahme dazu.
Da kommt man nicht drum rum und man steht sich gerne selbst im Weg, wenn man was ändern mag und entwickelt vielleicht sogar Strategien, um sich das zu erlauben.
Trotzdem, egal, was man isst, es gibt immer einen Grund (auch wenn man ihn nicht bewusst da hat). Nicht unbedingt eine psychische Störung, aber ein Motiv und das kann sein, dass es Spaß macht, Langeweile vertreibt, entspannt (es muss ja nichts Schlimmes sein), .... . Zum Thema Genuss. Ja, man kann schon mehr essen, weil man das genießt. Wenn man allerdings nicht mehr aufhören kann, hat man ein Problem und daran erkennt man das meiner Meinung nach gut. Kann ich einfach mal bestimmtes Zeugs weglassen oder fahre ich dann um Mitternacht zur Tankstelle? Beeinträchtigt das Essen mein Leben negativ? Sobald das gegeben ist, dann ist es einfach mehr als genussvolles Speisen. Wenn man zum Beispiel raucht, damit man in der Arbeit kurz zur Ruhe kommt und sonst nie, dann hat man das Motiv Entspannung und schafft es dann vielleicht darüber, das Problem zu lösen. Wenn man einfach "gerne" isst, weil´s einem schmeckt, dann hat man das Gewicht unter Kontrolle und wenn nicht, dann sollte man nochmals die Motive hinterfragen. Beides gleichzeitig geht einfach nicht.
Und ja, eine gewisse Disziplin gehört zum Abnehmen auch dazu. Allerdings ist jemand, der nicht abnimmt, nicht unbedingt undiszipliniert. Das ist ein Vorurteil. Ein guter Freund von mir hat (und er ist beneidenswert diszipliniert) innerhalb eines Jahres 60 kg abgenommen. Im nächsten Jahr dann nochmals 10 und dann hat er es fast 2 Jahre gehalten. er war normalgewichtig. Mit viel Sport, einer Ernährungsumstellung, am Abend nicht essen, kein Zucker, und eigentlich nicht ungesund. Sogar mit ärztlicher Begleitung. Im letzten Jahr hat er wieder 20kg zugenommen und man sieht, wie es mehr wird. Und sowas hat der schon öfter hinter sich. von 120kg runter auf 90, ein bisschen halten und wieder rauf, aber dann auf 130. Die Disziplin wäre eh da, nur dann kommt ein Trigger und zack, aus ist es. Nachdem ihn keiner verzaubert haben wird und es keinen körperlichen Grund gibt, ist es wohl psychisch. Zuerst die Motivation für die Gewichtsabnahme (das waren gesundheitliche Schwierigkeiten) und dann der Trigger. Wenn Essen eine reine Gewohnheit gewesen wäre, dann hätte er es ja im Griff gehabt und das sogar für einen längeren Zeitraum und unter Kontrolle bringen können.
Abschließend möchte ich noch zu dem Unterschied zwischen einer psychischen Störung und einer Verstimmung sagen. Ich bleibe aber beim Bsp. Depression.
Ja, es gibt genug Dinge, mit denen man beispielsweise eine Depression begünstigen bzw. eindämmen und behandeln kann. Genauso verwechselt man gerne mal fälschlicherweise Depression mit einer schlechten Stimmung. Sowie man falsch Grippe zu einem grippalen Infekt sagt, Mobbing zu einem nicht netten Menschen. Genauso wenig ist eine Depression per se eine Laune oder eine Ausrede. Es ist eine Erkrankung. Aber ja, meine Oma sagt auch, dass Asthma Einbildung ist, denn sie selbst hatte nie Probleme damit.
Klar kann man sich auf einer Diagnose ausruhen oder Ausreden finden. Ich möchte aber bitte klar stellen, dass eine Depression eine Erkrankung ist, die einen mitunter komplett lahm legt. Man kann nicht aufstehen, um die Waschmaschine zu leeren. Nicht weil man nicht will (oder nicht diszipliniert ist), sondern weil man nicht kann und anders als ein gebrochenes Bein, das nach ein paar Monaten wieder heilt, hat man die Veranlagung ein Leben lang. Auch, wenn man sie wieder im Griff hat. So etwas wird ärztlich diagnostiziert.
Also man sollte in beide Richtungen vorsichtig sein. Wenn man immer (und ich formuliere das jetzt absolut überspitzt) eine schlechte, depressive Verstimmung bekommt, ehe man etwas macht, das man nicht mag, dann sollte man sich überlegen, ob man sich nicht vielleicht etwas vormacht. Z.B.: man ist immer zu müde, den Müll rauszutragen, aber ist dann 5 Minuten später bestens gelaunt, um Karaoke zu singen und danach wieder zu müde für den Abwasch. Das ist dann, wenn man auch einen Nutzen aus einer Krankheit hat. Wie Migräne, wenn die anstrengenden Freunde vom Partner zum Essen einladen und man tatsächlich immer Migräne bekommt.
Nur kann man eben auch umgekehrt nicht sagen, dass eine Depression Einbildung ist.